Weiß-rote Absperrgitter halten Neugierige fern – und geben zugleich den Blick frei auf eine Baustelle, die sichtbar macht, was lange verborgen war. Zwischen Bagger und Pinsel offenbart sich die Geschichte Berlins.
In unmittelbarer Nähe zum Alex liegt das Rathaus- und Marx-Engels-Forum. Der 72.000 Quadratmeter große Freiraum wird neugestaltet – zukunftsweisend und nachhaltig. Der ganzheitliche Entwurf integriert Geschichte und Zukunft, Grün und urbane Architektur. Er bietet Raum für das Engagement der Bürger und Bürgerinnen und es entstehen Freizeit-, Sport- und Spielangebote für alle Altersgruppen. Durch ein innovatives Regenwassermanagement wird das anfallende Niederschlagswasser künftig ressourcenschonend gesammelt und vollständig auf dem Areal des Rathaus- und
Marx-Engels-Forums verdunstet oder versickert.
Im Auftrag der Grün Berlin GmbH entnimmt das Team der EGGERS Umwelttechnik Herzfelde das bestehende Bodenmaterial bis in eine Tiefe von drei Metern, um die bodenschutz- und grundwasserrechtlichen Anforderungen zu erfüllen. Anschließend wird es durch unbelasteten, versickerungsfähigen Boden ersetzt.
Das Besondere an den Arbeiten ist die enge Begleitung durch Archäologen, denn die Baustelle befindet sich im Gründungskern Berlins mit ihren unterirdischen historischen Kellern und Grundmauern.
Die freigelegten Funde reichen bis in das 13. Jahrhundert zurück!
Wir haben mit Gerson H. Jeute von der Archäologie Manufaktur GmbH gesprochen, die das Projekt archäologisch begleitet.
P: Herr Jeute, Sie begleiten als Archäologe das Bauvorhaben am Marx‐Engels‐Forum in Berlin. Welche Erwartungen hat man an diesen Standort? Gibt es historische Besonderheiten, die ihn archäologisch interessant machen?
Bei der archäologischen Begleitung am Marx-Engels-Forum erwartet man vor allem Aufschlüsse zur Entwicklung der mittelalterlichen Doppelstadt Berlin-Cölln. Aufgrund fehlender schriftlicher Quellen sind archäologische Funde hier besonders wichtig.
Tatsächlich konnten Spuren der ersten Urbarmachung und Bebauung im 13. Jahrhundert sowie zahlreiche nachmittelalterliche Befunde dokumentiert werden, mit denen wir so nicht gerechnet haben.
P: Gab es bei diesem Projekt bereits spannende Funde?
Ja, es ging bereits am ersten Tag mit spannenden Funden und Befunden los und zieht sich seitdem durch. Das kann mental auch schon einmal anstrengend werden ... Vor allem die barockzeitlichen Latrinen im Untersuchungsgebiet sind voll von seltenen schönen und qualitätsvollen Funden. Dazu zählen vor allem Fragmente von hochwertigen Trinkgläsern.
P: Welche Bedeutung haben solche Funde für die Geschichte Berlins?
Solche Funde sind wichtig, weil sie neue Einblicke in das Alltagsleben und die Nutzung städtischer Räume geben, die in schriftlichen Quellen oft fehlen. Der Fund eines Pferdes etwa deutet auf eine stärkere landwirtschaftliche Nutzung in einem wohlhabenden Stadtteil hin. So trägt die Archäologie wesentlich zum Verständnis der Stadtentwicklung, der historischen Topographie und der sozialen Strukturen Berlins bei.
P: Was passiert mit den Fundstücken, nachdem sie geborgen sind?
Die Funde werden nach der Reinigung inventarisiert, beschriftet und wissenschaftlich beschrieben. Bis einzelne Funde in einem Museum gezeigt werden, ist es ein sehr langer Weg. Aber das neugegründete Archäologie-Lab "PETRI Berlin" am Berliner Petriplatz beschreitet neue Wege und hat bereits Interesse an unserer Grabung gezeigt.
P: Und zuletzt: Was war der ungewöhnlichste Fund Ihrer Karriere?
Es sind vor allem die Befunde, die in Erinnerung bleiben, beispielsweise ein frühmittelalterlicher Holzkastenbrunnen in Polen, der so gut erhalten war, dass man ihn hätte wieder in Betrieb nehmen können. Oder die Pfostenstandspuren von Häusern der sogenannten Linearbandkeramischen Epoche in Sachsen-Anhalt: ein gut erhaltener, präziser Hausbau aus der Jungsteinzeit – unmittelbar nach der Sesshaftwerdung des Menschen! Und wer einmal die Gelegenheit hatte außerhalb Europas zu graben, wie beispielsweise im Vorderen Orient, der wird ein Leben lang davon erzählen.
Vielen Dank für die interessanten Einblicke!
